Wer folgt wem oder wer hat das Sagen bei Neuproduktentwicklungen.
Ein Schelm, der denkt es wäre die Marketingabteilung. Unter der Annahme, der Produktentwicklungsprozess liegt in der Hoheit des Marketings, so ist in Theorie auch diese Abteilung zuständig. Richtig. Doch wer trifft in der Praxis die Entscheidungen? Z.B. welches Produkt zur Marktreife entwickelt werden soll? Woher kommt der Auftrag ein neues Produkt in den Markt zu bringen? Und wer entscheidet, wie das Produkt auszusehen hat? Vertrieb, Produktion, Marketing oder vielleicht sogar Controlling? Vielleicht ja auch der Geschäftsführer mit persönlicher Meinung oder die Frau vom Vertriebsleiter, vielleicht auch die Sekretärin vom Vorstand?
Ich habe bisher noch kein Unternehmen kennen gelernt, in dem die gelehrte Marketing-Theorie tatsächlich optimal umgesetzt wird. Von der Strategie und dem Kundenbedürfnis, abgeleitet von der Customer Journey mit richtigem USP usw… Eventuell habe ich nur in den falschen Unternehmen gearbeitet und es gibt sie wirklich: diejenigen die alles so machen wie es der optimale Lehrbuchablauf vorsieht. Meine Erfahrung schreibt folgende Geschichten.
Schau mal, was unsere Anlage kann.
Geschichte 1: Ein Kollege aus der Produktion, welcher ein ausgeprägtes Verständnis von seinen Anlagen und deren Möglichkeiten besitzt, geht zum Vertriebskollegen und erzählt ihm: „Ich habe da eine tolle Idee, das wäre doch was für euren Kunden XY! Ich habe das auch schon ausprobiert, schau mal, das ist doch super.“ Und übergibt dem Vertriebskollegen ein Muster. Dieser hält das Muster in der Hand und sagt: „Das nehme ich mal mit zum Kunden XY, mal sehen wie der das findet.“ Und dann findet der Kunde das ganz ok und würde eventuell, wenn das Produkt fertig ausgereift ist, nochmal darüber sprechen wollen.“ Der Vertriebskollege glücklich, kann er doch „eventuell“ einen Auftrag platzieren und will jetzt unbedingt das Produkt. An dieser Stelle holt er das Marketing mit ins Boot.
Und jetzt? Wie läuft das jetzt mit der Customer Journey? Was war noch der Produktnutzen? Ach das hat der Wettbewerber schon… Nee, kalkuliert haben wir den Preis noch nicht. Wie kriegt das Marketing jetzt die Kuh vom Eis? Soll man einfach das machen, was der Kollege aus der Produktion wollte? Egal ob es am Ende jemand kauft oder der Verkaufspreis gar nicht passt? Oder soll man einfach ein Konzept konstruieren, was zumindest ein wenig nach Kundenbedürfnis aussieht, aber nicht überzeugen kann? Egal wie man sich entscheidet, es wird in den meisten Fällen eine halbgare Nummer mit wenig Erfolgschance.
Das lässt sich nicht verkaufen!
Geschichte 2: Die Marketingkollegen haben sich ausgiebig mit Trends und Portfolio-Analysen beschäftigt. Haben die Sortimente betrachtet und festgestellt: es braucht ein neues Produkt, welches zukunftsfähig ist. Die Idee wurde entwickelt, der Prozess gestartet, das Konzept geschrieben. Es gibt einen relevanten Verbrauchernutzen, das Produkt kann als Innovation hochpreisig verkauft werden. Die Produktion hat, wenn auch zähneknirschend, einen Weg gefunden, das Produkt herzustellen. Jetzt ist es an der Zeit dem Vertrieb die frohe Botschaft zu verkünden, dass er ein neues Produkt verkaufen kann. Der hatte jedoch ganz andere Vorstellungen, wie ein neues Produkt auszusehen habe. Er ist der Meinung „das lässt sich nicht verkaufen“, „dafür gibt es keinen Markt“ und „er müsse den Absatzmittler überzeugen“, der natürlich „auch anderer Meinung ist“.
Moment! Sprechen hier alle vom gleichen Markt? Und warum lässt sich ein relevanter Verbrauchernutzen nicht verkaufen? Und warum hat der Absatzmittler mehr Ahnung als das Marketing? Wer entscheidet denn nun, was das Richtige ist? Im Zweifelsfall der Geschäftsführer, wenn sich Marketing und Vertrieb nicht einig werden. Und wem ist der Geschäftsführer mehr gesonnen? Dem der das Geld reinholt oder dem der das Geld ausgibt? Glücklicherweise gibt es ja auch Geschäftsführer, die an Innovationen interessiert sind und eine gute Idee erkennen, die das Geschäft voran bringt. Wenn Marketing hier lückenlos argumentieren kann, so sollte dem Neuprodukt nichts im Wege stehen. Wehe aber es stellt sich heraus, das Konzept ist fehlerhaft…
Meine Frau findet das blöd.
Geschichte 3: Durchaus kommt es vor, dass es in Unternehmen keinen Beef zwischen Marketing und Vertrieb gibt. Beide Abteilungen arbeiten verzahnt, abgestimmt und in die gleiche Richtung. Es wurde sich für eine Produktidee entschieden, die zur Marktreife entwickelt wird und kurz vor dem Startschuß wird die letzte Freigabeinstanz konsultiert. Der Geschäftsführer muß das finale GO geben. Die Stimmung ist gut, ein Produktmuster liegt vor. Eigentlich kann nichts mehr passieren. Eigentlich! Nun ist der Geschäftsführer nicht ganz so entscheidungsfreudig, irgendwie unschlüssig. Er sagt „er müsse sich das in Ruhe anschauen“ und er „würde dann in den nächsten Tagen die Entscheidung treffen.“ Die nächsten Tage sind vorbei und man hat sich auf einen neuen Termin getroffen, in dem die Entscheidung verkündet werden soll. „Meine Frau findet die Produktidee blöd“ sprach der Geschäftsführer ohne jegliche Begründung und lehnt die Produkteinführung ab.
Ähm?!? War jetzt eigentlich die Frau des Geschäftsführers die Zielgruppe? Und warum braucht der Geschäftsführer seine Frau für diese Entscheidung? Und jetzt? Wie geht man denn mit so einem Fall um? Schwierig. Wenn es sich um einen Einzelfall handelt, könnte es sein dass der Geschäftsführer nicht ausreichend abgeholt wurde. Das Konzept nicht verstanden hat oder die Idee einfach zu weit weg von seinem eigenen Verständnis ist. Auf jeden Fall sollte mit Fragen der Hintergrund der Entscheidung herausgefunden werden. So hat man zumindest eine Option, das Konzept anzupassen, so dass alle dahinter stehen. Vielleicht braucht es aber auch einfach nur einen „wichtigen Fürsprecher“. Jemanden dem der Geschäftsführer vertraut, den man mit in die Entscheidungsfindung dazu holen kann, um eine zweite Meinung zu haben. Dies funktioniert allerdings nur, wenn die Produktidee ein wirklicher Brüller ist und die Mehrheit überzeugen kann. Exoten haben meistens keine Chance, da ist der Zug dann abgefahren.
Und sonst so?
Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr Geschichten fallen mir ein. Wie zum Beispiel eine Begebenheit mit einem Controller, der mit völligem Entsetzen feststellt, dass die neue Verpackung ja teurer wird aber man dafür beim Verbraucher keine Preiserhöhung durchsetzen könne. Ergo, das Produkt wird in der Herstellung teurer und man wolle doch wohl zukünftig mehr Gewinn machen und könne das so nicht der Geschäftsführung empfehlen. Kurzfristig gedacht richtig. Doch wenn die Verpackung ein Standard von vor über 20 Jahren ist und man jetzt das Produkt neu beleben möchte und dazu ein zeitgemäßen Auftritt braucht, wäre eine reine Mehrkosten-Betrachtung irgendwie zu einfach gedacht…
Vielleicht gibt es ja noch weitere Begebenheiten, die gerne in einem Kommentar Platz finden können. Also liebe Leser, her mit den skurrilen Geschichten. Man kann immer etwas dazu lernen.